Kapitel 1: Last Call

Neural Network - Run 01: Data Heist
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Der Regen trommelte gegen die schmutzigen Fenster der "Iron Tusk", einer Bar tief im Frankfurter Underground-Sprawl. Neonlicht von draußen warf cyan-farbene Schatten über die wenigen Gäste, die um diese Stunde noch hierher verirrten. Der Geruch von billigem Syntho-Whiskey und gebratenen Soja-Riegeln hing schwer in der Luft.

Willow saß allein am Ende der Bar, den massigen Zwergenkörper über ein halbvolles Glas gebeugt. Seine tätowierten Arme ruhten auf der klebrigen Theke, jede Tinte erzählte eine Geschichte aus besseren Zeiten. Das Tribal-Muster auf seinem linken Unterarm - sein erster Corporate Run. Die brennende Arasaka-Logo-Parodie auf der rechten Schulter - der Job, der ihn zur Legende machte. Alles Geschichte jetzt.

"Noch einen, Kurzer?" Der Barkeeper, ein dürrer Troll mit zu vielen Implantaten, hielt die Flasche bereits in der Hand.

"Verdammt, ja." Willow's Stimme war rau vom Rauchen billiger Zigaretten. "Und hör auf mich 'Kurzer' zu nennen, du verfickte Blechbüchse."

"Weißt du was, Grimjack? Früher hätten die Corps um mich gebettelt. Zwanzig Jahre im Geschäft, und was hab ich davon? Einen kaputten Rücken und leere Taschen."

Der Barkeeper grunzte nur und schenkte nach. Er hatte die Geschichte schon hundert Mal gehört. Willow nahm einen großen Schluck und starrte in den Spiegel hinter der Bar. Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, war müde geworden. Zu viele Runs, zu viele Narben, zu viele Jahre.

"Die jungen Nachwuchs-Runner mit ihren glänzenden Cyberaugen und ihrem Matrix-Quatsch..." Willow spuckte auf den Boden. "Die haben keine Ahnung, wie man einen echten Run macht. Alles nur noch Hacken und Schleichen. Wo zum Teufel ist die Kunst des direkten Angriffs geblieben?"

Draußen heulten Sirenen durch die Nacht. Probably wieder ein Konzern-Krieg in den oberen Etagen. Willow kümmerte es nicht mehr. Seine Zeit war vorbei.

INCOMING CALL - VERSCHLÜSSELTER CHANNEL

ID: ████████

STATUS: UNBEKANNT

Das COM-Implant in seinem Ohr piepte leise. Willow ignorierte es. Vermutlich wieder ein Schuldeneintreiber oder ein Vermieter. Aber das Piepen wurde hartnäckiger.

"Scheiße!" Er aktivierte widerwillig die Verbindung. "Hier ist Willow. Und wer auch immer du bist, ich bin nicht interessiert."

"Willow. Ich kenne deine Arbeit. Der Arasaka-Tower 2078. Fünfzehn Stockwerke, zwanzig Sicherheitskräfte, null Verluste auf deiner Seite. Beeindruckend."

Willow erstarrte. Nur eine Handvoll Leute wussten Details über diesen Run. Und die meisten davon waren tot.

"Wer zum Teufel bist du? Und wie hast du diese Nummer?"

"Ich bin... ein Kollege. Du kannst mich GHOST nennen. Und ich habe einen Job für dich."

"Ha!" Willow lachte bitter auf. "Einen Job! Hör zu, Geist-Junge, niemand will mehr einen alten Zwerg wie mich. Die Corps setzen auf junge Hotshots mit fancy Augmentations und Matrix-Magic."

"Ich bin nicht die Corps. Und ich brauche genau das, was du mitbringst - Erfahrung, Instinkt, und die Fähigkeit, Probleme mit direkter Gewalt zu lösen, wenn alle elektronischen Spielereien versagen."

Willow schwieg einen Moment. In der Stimme lag etwas... Ungewöhnliches. Zu ruhig, zu kontrolliert. Fast mechanisch, aber nicht ganz.

"Was für ein Job?"

"Data-Extraktion aus dem Rhein-Main Banking Consortium. Hochsicherheitstrakt, Ebene -15. Das Problem: Alle bisherigen Versuche sind gescheitert. Matrix-Abwehr ist zu stark, physische Infiltration gilt als unmöglich."

"Unmöglich ist mein Spezialgebiet," knurrte Willow, und zum ersten Mal seit Monaten blitzte etwas wie Interesse in seinen Augen auf.

"50.000 Nuyen. Die Hälfte im Voraus. Treffen morgen, 23:00 Uhr, alte U-Bahn-Station Konstablerwache, verlassener Bahnsteig 7."

Die Verbindung wurde unterbrochen. Willow starrte einen Moment ins Leere, dann kippte er den Rest seines Drinks hinunter.

"Grimjack, ich glaub, ich bin wieder im Geschäft."

50.000 Nuyen... Verdammt noch mal. Das war mehr, als er in den letzten zwei Jahren zusammen verdient hatte. Und dieser GHOST - wer auch immer das war - kannte seine Vergangenheit. Kannte Details, die längst in Konzernarchiven begraben sein sollten.

Willow stand auf, warf ein paar Credsticks auf die Bar und stapfte zur Tür. Draußen peitschte der saure Regen durch die Neonschluchten. Irgendwo in der Ferne explodierten Feuerwerkskörper - oder vielleicht Granaten. In Neo-Frankfurt war der Unterschied oft nicht klar.

Aber zum ersten Mal seit Langem hatte Willow ein Ziel. Morgen würde er erfahren, wer dieser geheimnisvolle GHOST war. Und vielleicht - nur vielleicht - würde er dabei genug Nuyen machen, um nicht mehr in Spelunken wie der "Iron Tusk" zu versauern.

CHAPTER END - NEXT: Kapitel 2: Ghost Protocol

STATUS: WILLOW REKRUTIERT

MISSION: RHEIN-MAIN BANKING CONSORTIUM - EBENE -15

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